Teil IX

Das Preu­ßi­sche Of­fi­ziers­korps am An­fang des 19. Jahr­hun­derts war mehr­heit­lich noch ge­prägt von der fri­de­ri­zia­ni­schen Zeit. Dass sich die­ser Stand mit den re­vo­lu­tio­nä­ren Ver­än­de­run­gen im Staats­we­sen Preu­ßens mehr als schwer tat, liegt in der Lo­gik der Dinge.

Die Fol­gen des Ok­to­ber­edikts von 1807 grif­fen sub­stan­ti­ell in das Adels­ge­fü­ge Preu­ßens ein, da sich die tra­di­tio­nel­le Stan­des­wirt­schaft mas­siv zu ver­schie­ben droh­te. Die Ge­stat­tung des frei­en Han­dels mit Grund­be­sitz, die Auf­he­bung der Leib­ei­gen­schaft der Bau­ern und der Pa­tri­mo­ni­al­hier­ar­chie rüt­tel­ten an den Grund­pfei­lern der ad­li­gen Ge­sell­schaft die­ser Zeit. Das auf­stre­ben­de Bür­ger­tum er­öff­ne­te sich mit Fleiß, Ord­nung und Spar­sam­keit die Mög­lich­keit, in die Pha­lanx des al­ten Adels ein­zu­bre­chen. Der Grund­be­sitz war nicht mehr das ent­schei­den­de Kri­te­ri­um der Macht, son­dern der Be­sitz frei ver­füg­ba­rer Geldmittel.

Ei­ne be­son­de­re Be­dro­hung sah der Adel im Auf­tau­chen jü­di­scher Kauf­leu­te in ih­ren an­ge­stamm­ten »Jagd­re­vie­ren«, wie wir wei­ter oben bei Achim von Ar­nim be­ob­ach­ten konn­ten. Es lag in der Na­tur der Din­ge, dass der Adel ver­such­te, sich vom Bür­ger­tum all­ge­mein und vom Ju­den­tum be­son­ders ab­zu­set­zen. F. W. III. spür­te wohl die­se Ma­lai­se und ver­such­te, sein ei­ge­nes Edikt zu re­la­ti­vie­ren und durch For­mu­lie­run­gen in sei­ner ihm ei­ge­nen Spra­che abzuschwächen:

»(…) nie­mand sei­ne Eh­re ge­kränkt hal­ten kann (…)«
(Vergl. Ka­bi­netts­or­der 〈KO〉 vom 3. Sep­tem­ber 1807, nach Zun­kel, Fried­rich: Eh­re , Hg. Brun­ner & Ot­to Bd. 2 S. 37)

Schlag­wor­te wie »rit­ter­li­che, hö­fi­sche, ade­li­ge Eh­re« be­gan­nen an Be­deu­tung zu ver­lie­ren. Die Rol­le des Adels als tra­gen­de Säu­le des Staa­tes war in Ge­fahr, wie Fried­rich Au­gust von der Mar­witz – wir konn­ten das wei­ter oben be­ob­ach­ten – wahr­schein­lich fürch­te­te. Im Fahr­was­ser die­ser ge­sell­schaft­li­chen Er­schei­nun­gen ha­ben ju­den­feind­li­che Äu­ße­run­gen aus dem Krei­se der da­ma­li­gen Of­fi­zie­re der un­ter­schied­lichs­ten Rang­ebe­nen durch­aus Ge­mein­sam­kei­ten. Die Mo­ti­ve je­des Ein­zel­nen wa­ren in córpore zu betrachten.

»(…) Un­ter den nach­je­na­i­schen Re­for­men, die den preu­ßi­schen Staat re­stau­rier­ten, ist kei­ne so be­ju­belt und kei­ne so ver­dammt wor­den wie das Ok­to­ber­edikt von 1807. Schön fei­er­te in ihm die Ma­gna Char­ta des Staa­tes, wäh­rend Ur­jun­ker Mar­witz bis­sig mein­te, al­le Ideo­lo­gen und Phi­lo­so­phan­ten von der Ga­ron­ne bis zum Nje­men hät­ten ein Lob­lied dar­über an­ge­stimmt. Die ei­ne An­sicht war so über­trie­ben wie die andere. (…)«
(Vergl. Franz Meh­ring: Das Ok­to­ber­edikt von 1807, 1 .Ok­to­ber 1912 in »Die Neue Zeit«, 31. Jg. 1912/13, Bd. 1, S. 46 bis 55.)

Da­mit zu­rück zu Carl von Clau­se­witz, der – wie wir schon fest­ge­stellt ha­ben – nicht zur »Gat­tung Mar­witz« ge­hör­te. Gleich­wohl ließ auch er sich zu ei­ner be­mer­kens­wer­ten Äu­ße­rung hin­rei­ßen, die auf ei­ne wie auch im­mer zu ver­ste­hen­de ju­den­feind­li­che Ge­mein­sam­keit mit sei­nen Stan­des­ge­nos­sen hin­wei­sen könnte.

Nach­dem die Ko­ali­ti­ons­ar­mee die Schlacht auf dem Mont­mart­re am 30. März 1814 öst­lich von Pa­ris sieg­reich be­en­det hat­te – es war die letz­te des Win­ter­feld­zu­ges 1814 – schrieb Clau­se­witz am 11. April 1814 aus Tour­n­an, zwei Ta­ges­mär­sche vom Schlacht­feld ent­fernt, an sei­ne Frau Marie:

»(…) Al­le Welt ist er­staunt über den Aus­gang der Ka­ta­stro­phe, Bo­na­par­te ist zäh wie ein Ju­de und eben­so scham­los. Man hat aber im all­ge­mei­nen ge­wiß un­recht, ihm per­sön­lich nicht den letz­ten Stoß ge­ge­ben zu haben. (…)«
(Vergl. »Carl und Ma­rie von Clau­se­witz« – Brie­fe, Ot­to Heusche­le, H. Schau­fuß-Ver­lag 1935, S. 236)

Die Al­li­ier­ten hat­ten wie­der­um rund 8.200 Mann an Ver­wun­de­ten und Ge­blie­be­nen zu be­kla­gen. Aus den Wor­ten Clausewitz´sprechen Sor­ge und Em­pö­rung, weil die drei sieg­rei­chen Mon­ar­chen die Cau­sa Na­po­lé­on Bo­na­par­te nicht mit al­ler Ent­schie­den­heit ab­schlie­ßen woll­ten. Der Ver­trag von Fon­taine­bleau, der am 11. April 1814 Na­po­lé­on zur Ab­dan­kung zwang, bot – wie die Ge­schich­te dann ein knap­pes Jahr da­nach be­wies – nicht die Ge­währ, Eu­ro­pa von dem »blu­ti­gen und un­er­bitt­li­chen Un­ge­heu­er«, wie E. M. Arndt Bo­na­par­te in sei­nem Auf­ruf »An die Preu­ßen« En­de Ja­nu­ar 1813 be­zeich­ne­te, end­gül­tig zu befreien.

Fon­taine­bleau (1814)
Quel­le: Wikipedia

Das »Un­ge­heu­er« war zwar ge­schla­gen, aber nicht be­siegt. Die groß­zü­gi­gen Do­ta­tio­nen für Bo­na­par­te, die In­sel El­ba und 1.000 Mann Gar­de, auf­ge­wen­det durch die fran­zö­si­sche Staats­kas­se, ge­ba­ren dann die be­rühm­ten »100 Ta­ge« mit der Schlacht bei Wa­ter­loo und das Fi­na­le für den »Schlach­ten­len­ker«. Die­ses Er­eig­nis for­der­te er­neut rund 21.000 to­te und ver­wun­de­te Preu­ßen. Al­lein in dem un­glück­lich ver­lau­fen­den Tref­fen bei Li­gny – dem letz­ten Sieg Na­po­lé­ons – am Vor­abend des er­bit­ter­ten Rin­gens, ver­lor Preu­ßen rund 12.000 Mann. Dar­über be­rich­te­te Gnei­se­nau an Har­den­berg am 22. Ju­ni 1815.

»(…) Der Feind wag­te nicht zu fol­gen. Wir hat­ten 10 – 12 000 Mann an To­ten und Ver­wun­de­ten ver­lo­ren, Ge­fan­ge­ne fast keine. (…)«
(Vergl. »Gnei­se­nau ein Le­ben in Brie­fen«, Hg. Dr. Karl Grie­wank, Köh­ler & Amelang/Leipzig, S. 322)

Aus den Wor­ten Clau­se­witz´ hö­ren wir eher Frust und Schwer­mut als be­wuss­te Ju­den­feind­lich­keit. Um­gangs­sprach­lich wer­den sol­che An­wür­fe »zäh wie ein Ju­de« wohl auch schon dem jun­gen Clau­se­witz, viel­leicht an den Wacht­feu­ern vor Mainz 1793 – wir er­in­nern uns – be­geg­net sein. Wir ent­schul­di­gen die­sen Satz nicht, son­dern ver­su­chen ihn si­tua­ti­ons­be­dingt zu ver­ste­hen. Auf ei­ne viel be­denk­li­che­re Ein­las­sung Clau­se­witz´, Ju­den be­tref­fend, wer­den wir hier spä­ter noch ein­mal zurückkommen.

Der hier schon er­wähn­te Her­mann von Boy­en, Clausewitz´Partner in der MRK, äu­ßer­te sich sehr de­zi­diert zum Ju­den­tum. Sei­ne Er­fah­run­gen mit Ju­den wa­ren ge­prägt durch Er­fah­run­gen, die er im Insur­rek­ti­ons­krieg (1794) ge­gen Po­len mit der Af­fai­re Kości­usz­ko sam­meln konn­te. Boy­en sah das Jahr 1794 als Ge­ne­ral­ad­ju­tant des Ge­ne­rals F. L. Fer­di­nand von Wildau (∗1726; †1794). Sei­ne Re­fle­xio­nen über die­se Zeit wa­ren ge­prägt von der da­mals in Preu­ßen vor­herr­schen­den Mei­nung über die Po­len all­ge­mein und über die pol­ni­schen Ju­den be­son­ders. Ver­all­ge­mei­nert kön­nen wir sa­gen, dass die Denk­wei­se ge­mein­gül­tig und ver­häng­nis­voll da­von aus­ging, dass Po­len Ju­den und Ju­den Po­len waren.

Über den pol­ni­sche Na­tio­nal­hel­den An­drzej Ta­de­usz Bo­na­wen­tura Kości­usz­ko (∗1746; †1817) schrieb Boyen:

»(…) Un­strit­tig war Kości­usz­ko ein sehr ed­ler Mann, ei­ner von den we­ni­gen Po­len, die oh­ne Ne­ben­ab­sicht sich der Sa­che sei­nes zer­trüm­mer­ten Va­ter­lan­des widmeten; (…)«
(Vergl. »Er­in­ne­run­gen aus dem Le­ben des Ge­ne­ral­feld­mar­schalls Her­man von Boy­en«, HG D. Schmidt, Brdg. Ver­lags­haus, Bd.1, S. 46)

Boy­en spricht sei­ne Ach­tung aus, die auf tap­fe­re Kriegs­füh­rung Kości­usz­kos zu­rück-zu­füh­ren ist, äu­ßert aber in glei­chem Atem­zug Miss­trau­en über des­sen Fä­hig­kei­ten. Hier stig­ma­ti­siert Boy­en in bo­rus­si­scher Art und Weise.

»(…) Je mehr ich über der­ar­ti­ge Din­ge nach­den­ken lern­te, im­mer zwei­fel­haf­ter, ob ihn bei sei­nen Un­ter­neh­mun­gen wirk­li­ches Feld­her­ren­ta­lent und ei­ne kla­re Ab­sicht sei­ner Ver­hält­nis­se oder die dem pol­ni­schen Na­tio­nal­cha­rak­ter ei­gen­tüm­li­che Auf­wal­lung […] leitete. (…)«
(Vergl. »Er­in­ne­run­gen aus dem Le­ben des Ge­ne­ral­feld­mar­schalls Her­man von Boy­en«, Hg. D. Schmidt, Brdg. Ver­lags­haus, Bd.1, S. 46)

An­drzej Ta­de­usz Bo­na­wen­tura Kościuszko
Quel­le: Wi­ki­pe­dia

Über die pol­ni­sche Be­völ­ke­rung ur­teil­te von Boy­en all­ge­mein vor­ein­ge­nom­men und auch abwertend:

»(…) Die Men­ge wech­sel­sei­ti­ger An­ge­be­r­ein, wel­che uns bei un­se­rem Ein­rü­cken in Po­len von den Ein­ge­bo­re­nen selbst zu­ström­ten, wa­ren ein si­che­rer Be­weis von der ge­rin­gen Ei­nig­keit und Va­ter­lands­lie­be in die­sem ze­rüt­te­ten Land. (…)«
(Vergl. »Er­in­ne­run­gen aus dem Le­ben des Ge­ne­ral­feld­mar­schalls Her­man von Boy­en«, Hg. D. Schmidt, Brdg. Ver­lags­haus, Bd. 1, S. 47) 

Da­ne­ben le­sen wir in Boy­ens Er­in­ne­run­gen her­ab­set­zen­de Ein­schät­zun­gen pol­ni­scher Ju­den, de­nen er be­geg­net war:

»(…) die Ju­den, wel­che ei­nen be­deu­ten­den Teil der Ein­woh­ner­schaft der Städ­te aus­mach­ten, hiel­ten es aus klu­ger Po­li­tik mit uns als den au­gen­blick­lich Stär­ke­ren, und der üb­ri­ge Teil, der die schlech­ten Hüt­ten, wel­che man Städ­te nann­te, be­wohn­te, stand dem Bau­ern­stand in sei­nen Ge­sin­nun­gen und Sit­ten sehr na­he; ei­nen ei­gent­li­chen Bür­ger­sinn, der al­le Be­woh­ner ei­nes Or­tes ver­band, gab es nicht. Schon die gro­ße An­zahl der Ju­den, wel­che durch ih­re List und Geld­mit­tel ei­nen be­deu­ten­den Ein­fluß in der Kom­mu­ne üb­ten, stand der Ein­rich­tung des Bür­ger­tums entgegen. (…)«
(Vergl. »Er­in­ne­run­gen aus dem Le­ben des Ge­ne­ral­feld­mar­schalls Her­man von Boy­en«, Hg. D. Schmidt, Brdg. Ver­lags­haus, Bd. 1, S. 49) 

Wir wis­sen aber, dass Boy­en ne­ben Scharn­horst u. a. Mit­un­ter­zeich­ner des Gut­ach­tens über Schröt­ters Ent­wurf für das Eman­zi­pa­ti­ons­edikt war. Un­ter die­sen Be­din­gun­gen hat­te er sich den har­den­ber­gi­schen Re­for­men for­mal ge­beugt. In sei­nen Er­in­ne­run­gen be­schreibt Boy­en un­ter dem 1. Au­gust 1835, al­so run­de 23 Jah­re nach dem In­kraft­tre­ten des Edik­tes, sei­ne da­ma­li­gen Beweggründe:

»(…) Ein un­ter dem 11. März 1812 ge­ge­be­nes Edikt gab den bis da­hin im preu­ßi­schen Staat un­ter man­cher­lei Druck ste­hen­den Ju­den den größ­ten Teil der bür­ger­li­chen Rech­te und wur­den der Ge­gen­stand ei­nes au­gen­blick­li­chen Lär­mes, den eben­so christ­li­che Vor­ur­tei­le als christ­li­cher Han­dels­neid er­zeug­te. Daß der Zweck des Ge­set­zes ge­recht und al­so wahr­haft christ­lich war, be­darf wohl kei­nes wei­te­ren Be­wei­ses. Es war in­des, da der Ge­setz­ge­ber auch die im Volk herr­schen­den Vor­ur­tei­le be­ach­ten soll, der Sprung viel­leicht auf ein­mal zu groß; doch muß man da­bei nicht ver­ges­sen, daß der Staat da­mals un­auf­hör­lich Geld brauch­te und daß die Ju­den bei au­gen­blick­li­cher Ver­le­gen­heit dies noch am bes­ten her­bei­schaf­fen konn­ten; auf die­sem Weg we­nigs­tens hat in ei­ner min­der be­schränk­ten Zeit Roth­schild von bei­na­he al­len christ­li­chen Mäch­ten Rit­ter­or­den und Ba­ro­nien erhalten. (…)«
(Vergl. »Er­in­ne­run­gen aus dem Le­ben des Ge­ne­ral­feld­mar­schalls Her­man von Boy­en«, Hg. D. Schmidt, Brdg. Ver­lags­haus, Bd. 1, S. 356-357)

Boy­en be­dient hier in sei­nen Er­in­ne­run­gen das ty­pi­sche Bild über die preu­ßi­schen Ju­den die­ser Zeit, ob­wohl er die Not­wen­dig­keit des Edik­tes for­mal ein­räumt. Al­ler­dings er­scheint sei­ne Be­grün­dung für die Not­wen­dig­keit des Edik­tes dann doch wie­der stig­ma­tisch un­ter Ver­wen­dung des Be­griffs Roth­schild, der je­doch im Jahr 1812 noch kein her­aus­ra­gen­de Na­me war. Erst zum Zeit­punkt der Nie­der­schrift sei­ner Er­in­ne­run­gen spiel­te Roth­schild ei­ne be­deu­ten­de Rol­le in der deut­schen Finanzwelt.

Am­schel May­er von Roth­schild (∗1753; †1855) 1817 in Ös­ter­reich geadelt
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Scharn­horst for­mu­lier­te das Ziel der »Mi­li­tär­re­form« in Preu­ßen, in­dem er sich mit Gnei­se­nau, Boy­en, Grol­man und Clau­se­witz u. a. an der Re­form Be­tei­lig­ten in Ein­klang befand:

»(…) Der Geist der Ar­mee ist zu er­he­ben, die Ar­mee und Na­ti­on in­ni­ger zu ver­ei­nen, und ihr die Rich­tung zu ih­rer we­sent­li­chen gro­ßen Be­stim­mung zu ge­ben, dies ist das Sys­tem, wel­ches bei den neu­en Ein­rich­tun­gen zum Grun­de liegt. (…)«
(Von Scharn­horst; Pri­va­te und dienst­li­che Schrif­ten. Bd. 5 – Lei­ter der Mi­li­tär­re­or­ga­ni­sa­ti­on (Preu­ßen 1808 bis 1809), S. 677)

Ein­gangs un­ter­stri­chen wir: »Der Leh­rer und Freund Clau­se­witz´, Ger­hard Da­vid von Scharn­horst, for­mu­lier­te in zwei Schrif­ten, »Vor­läu­fi­ger Ent­wurf der Ver­fas­sung der Re­ser­ve­ar­mee vom Au­gust 1807« so­wie »Vor­läu­fi­ger Ent­wurf zur Ver­fas­sung der Pro­vin­zi­al­trup­pen vom 15. März 1808«, je­weils im §1 der Entwürfe«:

»§ 1 Al­le Be­woh­ner des Staa­tes sind ge­bo­re­ne Ver­tei­di­ger desselben.«

Die­sen pro­gram­ma­ti­schen Leit­satz ver­su­chen wir hier als Grund­la­ge zu neh­men, um zu be­ur­tei­len, in­wie­weit Scharn­horst sich zu Fra­gen der Eman­zi­pa­ti­on der preu­ßi­schen Ju­den ge­äu­ßert oder fest­ge­legt hat.

Ger­hard Jo­hann Da­vid von Scharn­horst (*1755; †1813)
Quel­le: Wi­ki­pe­dia

So­weit wir die Denk­schrif­ten Scharn­horsts be­ur­tei­len kön­nen, sind in kei­nem Fall Be­grif­fe wie »Ju­de« oder »jü­disch« oder Be­deu­tungs­glei­ches nach­weis­bar. Auch aus dem dienst­li­chen und pri­va­ten Schrift­ver­kehr ist nichts der­glei­chen er­sicht­lich. Of­fen­sicht­lich hat sich Scharn­horst nicht auf ei­ne Po­le­mik zu die­ser Fra­ge ein­ge­las­sen. Wir kön­nen hier viel­leicht den ge­rad­li­ni­gen Cha­rak­ter des Man­nes erkennen.

In sei­ner Schrift »Über das Le­ben und den Cha­rak­ter von Scharn­horst« for­mu­liert Carl von Clau­se­witz über »Sein Herz«:

»(…) Scharn­horst war ein höchst le­ben­dig und zart füh­len­der, ja ein durch­aus wei­cher Mensch, und wenn die­ses Vor­wal­ten des Ge­fühls ihn in sei­nem öf­fent­li­chen Le­ben nicht zur Schwä­che führ­te, so war es nur Fol­ge der Über­le­gung und ei­nes künst­lich her­vor­ge­brach­ten ge­brach­ten Gleich­ge­wichts. In der Tie­fe des Her­zens Ge­rech­tig­keit, Red­lich­keit, Un­be­stech­lich­keit; in al­len Äu­ße­run­gen des Um­gangs in und au­ßer dem Ge­schäfts­le­ben Nach­sicht und Dul­dung, Ru­he und Freundlichkeit; (…)«
(Vergl. »Über das Le­ben und den Cha­rak­ter von Scharn­horst«, Jun­ker & Dünn­haupt 1935, Hg. E. Kes­sel, S. 40)

Mög­li­cher­wei­se ist das ei­ner von zwei Grün­den der Zu­rück­hal­tung Scharn­horsts zu Fra­gen des Stan­des der Ju­den in Preußen.

Auch sein Ver­hält­nis zum Adel – ob­wohl dort teil­wei­se ju­den­feind­li­che Sich­ten vor­herrsch­ten – wirk­te sich nicht of­fen ab­leh­nend auf jü­di­sche Bür­ger Preu­ßens aus.

»(…) Scharn­horsts per­sön­li­che Be­zie­hung zum Adel der Ar­mee und des Guts­be­sit­zes wa­ren viel­fäl­tig. Mit Ge­ne­ral von Rü­chel, dem Clau­se­witz ei­nen preu­ßi­schen Trotz „wie ei­ne kon­zen­trier­te Säu­re“ nach­sag­te, stand er in ei­nem re­spek­ta­blen dienst­li­chen Kon­nex, eben­so zu­letzt mit dem Ei­sen­fres­ser Yorck und mit den ost­preu­ßi­schen Doh­nas ver­ban­den ihn fa­mi­liä­re Sympha­ti­en. Die­se Rei­he lie­ße sich noch wei­ter fort­set­zen und auch auf die Mit­glie­der des Kö­nigs­hau­ses ausdehnen. (…)«
(Vergl. »Scharn­horst Geist und Tat« Hg. Sieg­fried Fied­ler Ma­xi­mi­li­an-Ver­lag 1963, S. 173)

Der zwei­te nach un­se­rer An­sicht be­deu­ten­de­re Grund ist die aus­ge­präg­te In­ten­ti­on Scharn­horsts, die sich ziel­ori­en­tiert auf die Her­stel­lung ei­nes po­li­ti­schen Bünd­nis­ses zwi­schen Re­gie­rung und Na­ti­on rich­te­te. In dem be­reits er­wähn­ten vor­läu­fi­gen Ent­wurf zur Ver­fas­sung der Pro­vin­zi­al­trup­pen vom 15. März 1808 le­sen wir:

»(…) Es scheint bei der jet­zi­gen La­ge der Din­ge dar­auf an­zu­kom­men, daß die Na­ti­on mit der Re­gie­rung aufs In­nigs­te ver­ei­nigt wer­de, […] Die­ser Geist kann nicht oh­ne ei­ni­ge Frei­heit in der Her­bei­schaf­fung und Zu­be­rei­tung der Mit­tel zu Er­hal­tung der Selbst­stän­dig­keit statt­fin­den. Wer die­se Ge­füh­le nicht ge­nießt, kann auf sie kei­nen Wert le­gen und nicht für sie aufopfern. (…)«
(Vergl. »Scharn­horst Aus­ge­wähl­te Schrif­ten« Hg. Usceck & Gud­zent, MV DDR, S. 245)

In der In­ter­pre­ta­ti­on dür­fen wir nicht nur die ma­te­ri­el­le Sei­te be­trach­ten, son­dern müs­sen zu­vör­derst den ideel­len Wert des Ge­le­se­nen wür­di­gen. Of­fen­sicht­lich macht Scharn­horst von vorn­her­ein kei­ner­lei Un­ter­schie­de zwi­schen Stän­den und vor al­lem zwi­schen den Re­li­gio­nen. Wir se­hen aber auch kei­ne be­son­de­re Er­wäh­nung ei­ne Mi­li­tär­pflicht für Ju­den be­tref­fend. Eben­so fehlt hier ei­ne mög­li­che Op­ti­on für jü­di­sche Of­fi­zie­re. Da­mit geht Scharn­horst der dann zu er­war­ten­den Op­po­si­ti­on im Adel aus dem Weg. Der Ab­sicht Scharn­horsts, dem Bür­ger­tum Ein­tritt in das Of­fi­ziers­korps zu er­mög­li­chen, hät­te das kon­tra­pro­duk­tiv ge­gen­über­ge­stan­den. Hier stell­te Scharn­horst of­fen­sicht­lich prak­ti­sche Not­wen­dig­keit über even­tu­el­le vor­han­de­ne Ver­nunft­s­grün­de. Sei­ne ganz pri­va­te Mei­nung ist – wie be­reits be­schrie­ben – nicht überliefert.

Al­ler­dings deu­tet al­les dar­auf hin, dass die Li­be­ra­li­sie­rung der Re­li­gi­ons­fra­ge be­wusst er­folg­te. In der Neu­fas­sung der »Ver­ord­nung we­gen der mi­li­tä­ri­schen Stra­fen«, lt. »Im­me­diat­be­richt der Mi­li­tär-Re­or­ga­ni­sa­ti­ons­kom­mis­si­on« vom 8. Ju­ni 1808, fehlt der Re­li­gi­ons­be­zug gänz­lich. Im Ge­gen­satz da­zu fin­den wir in den 1797 (nach der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on 1789 bis 1799) neu for­mu­lier­ten Kriegs­ar­ti­keln im Ar­ti­kel 1 noch den Ver­weis auf die christ­li­che Sit­ten­leh­re und de­ren Ein­hal­tung als Grund­wert für den preu­ßi­schen Soldaten:

»(…) Ein je­der Sol­dat muß ein christ­li­ches und tu­gend­haf­tes Le­ben füh­ren, die ihm nach sei­ner Re­li­gi­on ob­wal­ten­den Pflich­ten sorg­fäl­tig er­fül­len und al­ler sol­cher Hand­lun­gen, wo­durch sei­ne Re­li­gi­on ent­eh­ret wird, sich gänz­lich enthalten. (…)«
(Vergl. »Er­läu­te­run­gen der Kriegs­ar­ti­kel für die Kö­nig­li­chen Preu­ßi­schen Un­ter­of­fi­ci­rs und ge­mei­nen Sol­da­ten«, Ge­hei­mer Kriegs­rath Ca­van, Ber­lin den 20. März 1797)

Der Prag­ma­ti­ker Scharn­horst er­kann­te auch, dass ein wirk­sa­mes Sys­tem von Be­loh­nun­gen in der neu­en Ar­mee wir­ken soll­te. Sei­ne Kom­mis­si­on for­cier­te ne­ben Vor­schlä­gen für ideel­le und ma­te­ri­el­le For­men auch die Ver­sor­gung der Hin­ter­blie­be­nen der Sol­da­ten, die ihr Le­ben ga­ben. Und erst­mals in der preu­ßi­schen Mi­li­tär­ge­schich­te soll­ten die Eh­run­gen ge­blie­be­ner Sol­da­ten na­ment­lich in den Kir­chen er­fol­gen. In den Mit­schrif­ten über die Be­ra­tun­gen der MRK 1807, die Ma­jor Grol­mann ver­fasst hat­te, le­sen wir:

»(…) In der Kir­che je­des Na­men , der vor dem Feind ge­blie­ben oder an sei­nen Wun­den ge­stor­ben ist, mit gol­de­nen Buch­sta­ben auf­ge­zeich­net […] die Frau­en die­ser Ge­blie­be­nen er­hal­ten den ers­ten Platz. (…)«
(Vergl. »Scharn­horst Sol­dat • Staats­mann • Er­zie­her«, Hg R. Höh­ne, Bern­hard & Grae­fe Ver­lag, S. 208)

Am 5. Mai 1813, zu Dres­den, im Früh­jahrs­feld­zug des Jah­res, wur­de die »Ver­ord­nung über die Stif­tung ei­nes blei­ben­den Denk­mals für die, so im Kamp­fe für Un­ab­hän­gig­keit und Va­ter­land blie­ben.« in Preu­ßen durch F. W. III. in Kraft ge­setzt. Dar­in le­sen wir:

»(…) §. 1. Je­der Krie­ger, der den Tod für das Va­ter­land in Aus­übung ei­ner Hel­den­t­hat fin­det, die ihm nach dem ein­stim­mi­gen Zeug­nis sei­ner Vor­ge­setz­ten und Ka­me­ra­den den Or­den des ei­ser­nen Kreu­zes er­wor­ben ha­ben wür­de, soll durch ein auf Kos­ten des Staats in der Re­gi­ments­kir­che zu er­rich­ten­des Denk­mal auch nach sei­nem To­de ge­ehrt wer­den. […] §. 3. Au­ßer­dem soll für Al­le, die auf dem Bet­te der Eh­re star­ben, in je­der Kir­che ei­ne Ta­fel auf Kos­ten der Ge­mein­den er­rich­tet wer­den, mit der Auf­schrift: Aus die­sem Kirch­spie­le star­ben für Kö­nig und Va­ter­land; un­ter die­ser Auf­schrift wer­den die Na­men al­ler zu dem Kirch­spiel ge­hö­rig ge­we­se­nen Ge­fal­le­nen ein­ge­schrie­ben. Oben an die, wel­che das ei­ser­ne Kreuz er­hal­ten, oder des­sel­ben wür­dig ge­we­sen wären. (…)«
(Vergl. »Der preu­ßi­sche Or­dens­he­rold«, F. W. Hoff­mann, 1868, Ber­lin, Mitt­ler Ver­lag, S. 101)

Auch hier fehlt der aus­drück­li­che Ver­weis auf die christ­li­chen Kir­chen. Ge­spro­chen wird von »Kirch­spie­len«. Jü­di­sche Ge­mein­den in Preu­ßen konn­ten wo­mög­lich dem fol­gen, wenn die zu­stän­di­gen Rab­bi­ner von Sei­ten der Re­gie­rung der Pro­vinz da­zu die Ap­pro­ba­ti­on er­hal­ten hät­ten. In christ­li­chen Kir­chen lie­ßen sich lan­ge Zeit – bis in un­se­re Ta­ge – noch der­ar­ti­ge Ge­denk­ta­feln finden:

Ge­dächt­nis­ta­fel der St.-Thomas-Kirche in Kreuz­horst bei Mag­de­burg mit den Na­men von drei Ge­fal­le­ne von 1813
Quel­le: Volks­stim­me 26. Ja­nu­ar 2018

In jü­di­schen Syn­ago­gen in Preu­ßen, so­weit sie nach 1945 noch be­stehen, las­sen sich Ta­feln aus der Zeit der Be­frei­ungs­krie­ge schwer fin­den, ob­gleich es sol­che mög­li­cher­wei­se durch­aus ge­ge­ben ha­ben könn­te. In je­dem Fal­le wird das To­ten­ge­bet »El ma­le racha­mim« (Gott vol­ler Er­bar­men) für die Ka­me­ra­den Aa­rons, die nicht nach Hau­se zu­rück­ge­kehrt wa­ren, ge­spro­chen wor­den sein.

Scharn­horst trat ve­he­ment für »glei­che Pflich­ten und glei­che Rech­te al­ler Staats­bür­ger« ein. Hier stell­te er sich nicht ge­gen ei­ne Kon­skrip­ti­ons­pflicht für jü­di­sche Bür­ger. For­de­run­gen an die Ju­den wie äu­ße­re An­pas­sung an Sit­ten und Mo­den, z. B. das Sche­ren des Bar­tes u. Ä. wer­den wir bei Scharn­horst nicht fin­den. Si­cher­lich war aber auch der gro­ße Re­for­mer mit ei­ner schritt­wei­sen Amal­ga­mo­ti­on, sprich: ei­ner Kon­ver­si­on zum Chris­ten­tum mit dem Ziel ei­ner voll­stän­di­gen Gleich­stel­lung der Ju­den als Bür­ger Preu­ßens ein­ver­stan­den. Un­nach­gie­big­keit er­ken­nen wir je­doch in al­len Fra­gen der Pflich­ten der zu­künf­ti­gen Bür­ger Preu­ßens, oh­ne Rück­sicht auf Stand und Her­kunft. Scharf ver­ur­teil­te Scharn­horst die vor­herr­schen­de Pra­xis des »Frei­kau­fens« vom Mi­li­tär­dienst. In ei­ner Bei­la­ge zu ei­nem Be­richt vom 22. No­vem­ber 1810 über die »Un­zu­läs­sig­keit der Stell­ver­tre­ter« le­sen wir:

»(…) Es ist oh­ne Zwei­fel ei­ne har­te Sa­che für die ge­bil­de­te Klas­se, wel­che kei­nen Stell­ver­tre­ter stel­len kann, […] se­hen müs­sen, daß der rei­che­re un­ge­bil­de­te Bau­er, Wirth, Päch­ter, Bä­cker, Brau­er, Krä­mer, Wu­che­rer usw. ei­nen Stell­ver­tre­ter von der schlech­tes­ten Her­kunft, ne­ben ih­rem Mit­glied, ne­ben ih­ren Söh­nen und Ge­schwis­tern stellt. (…)«
(Vergl. Scharn­horst über die »Un­zu­läng­lich­keit der Stell­ver­tre­ter« in »Scharn­horst aus­ge­wähl­te mi­li­tä­ri­sche Schrif­ten«, Hg. Usc­zeck & Gud­zent, MV, 1986, S. 304)

Wir sto­ßen hier auf den Be­griff des »Wu­che­rers«, der ge­mein­hin für den jü­di­schen Kauf­mann in Preu­ßen ver­wen­det wur­de. Ob je­doch Scharn­horst hier die­sen Be­griff als Pa­ra­phra­se da­für ge­meint ha­ben woll­te, wis­sen wir nicht. Gleich­wohl bot der Be­griff an sich durch­aus den Vor­wand für un­ab­sicht­li­ches oder gar ge­woll­tes Miss­ver­ständ­nis. Hier, so ist an­zu­neh­men, dürf­te Carl von Clau­se­witz in den zen­tra­len Punk­ten re­zi­piert haben.

Scharn­horst dien­te Preu­ßen, ob­wohl er – ge­bo­ren im Han­no­ver­schen Bor­den­au – ein »Aus­län­der« war, mit vol­ler Hin­ga­be. Sei­ne in der Schlacht bei Groß­gör­schen er­hal­te­ne Wun­de ver­an­lass­te ihn nicht, sich zu scho­nen. Sein Auf­trag, Ös­ter­reich zur ak­ti­ven Teil­nah­me zum Kampf ge­gen Na­po­lé­on zu be­we­gen, war ihm Ver­pflich­tung. Er starb am 28. Ju­ni 1813 am Wundfieber.

Scharn­horst war der »Leucht­turm« in der preu­ßi­schen Mi­li­tär­ge­schich­te. Sein Schü­ler Carl von Clau­se­witz schrieb:

»(…) Was ich über die Füh­rung des Krie­ges im Jahr 1813 von ihm ge­hört, was ich bei Gör­schen auf dem Schlacht­fel­de von ihm ge­se­hen, hat mich in die­ser Mei­nung nur be­fes­tigt, und ich be­zweif­le es kei­nen Au­gen­blick, daß, wenn es ihm ge­lun­gen wä­re, den Be­fehl über ein gro­ßes Heer zu er­rin­gen, wie es ihm ge­lun­gen war, sich an die Spit­ze des preu­ßi­schen Kriegs­staa­tes zu stel­len, er in je­ner Lauf­bahn die Welt eben­so in Er­stau­nen ge­setzt ha­ben wür­de wie in dieser. (…)«
(Vergl. »Über das Le­ben und den Cha­rak­ter von Scharn­horst«, Jun­ker & Dünn­haupt 1935, Hg. E. Kes­sel, S. 47)

Denk­mal für Scharn­horst in Großgörschen
Quel­le: Stadt Lützen.de

Fort­set­zung Teil X

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